Die Oberen und die Unteren

Probieren Sie folgendes Beispiel einfach mal selber aus:

Sagen Sie sich: "Ich bin rund herum glücklich!" Und dann warten Sie so eine Minute, wobei Sie keine Antworten formulieren, sondern Ihre Stimmung wahrnehmen. Was hat der Satz "Ich bin rund herum glücklich!" in Ihnen verändert? Hat sich Ihre Stimmung zu vorher verändert? Und wenn Sie jetzt antworten sollten, können Sie ein klares JA sagen, oder JA SCHON, oder ICH BIN SCHON GLÜCKLICH ABER. Nach jeder Antwort werden Sie merken, so ganz paßt es noch nicht. Bald werden Sie merken, so klar können Sie es gar nicht sagen... wobei Sie aber sehr deutlich spüren können, ob es eine Resonanz gibt oder nicht was Sie sagen...

Nehmen Sie Platz auf der Bank und machen Sie eine kleine Pause. Spüren Sie in Ruhe nach, was dieses kleine Experiment in Ihnen bewirkt hat... weitere Gedanken übers Glück, eine kleine Verwirrung, was soll das Ganze eigentlich... oder...


    Sie haben sicher bemerkt, daß dies ein ungewöhnlicher Umgang mit sich selbst ist. Normalerweise stellt man sich doch gar keine Fragen; man sucht eher gleich eine Antwort. Niemand nimmt sich eine Minute Zeit um nachzuspüren, welche Stimmung wohl gerade da ist. Und doch ist genau dieser Umgang mit sich selber der zentrale Schlüssel, um eine persönliche und ganzheitliche Antwort für sich zu finden. Es geht bei diesem Helferlein also um den Umgang mit sich selber. Es ist eine besondere Form des Selbstgesprächs, wo nicht nur Gedanken gewälzt werden, sondern wo auch Körperempfindungen mit einbezogen werden.
     Dieser Dialog mit sich selber braucht noch eine Form, einen Namen, um ihn auch praktisch anwenden zu können. Gene Gendlin, der Begründer des Focusing (siehe WIKIPEDIA), hat diesen Dialog mit sich selber in seinen Seminaren vorgestellt:

"Da oben ist immer jemand. »Oben« heißt körperlich oben, im Kopf, in den Augen. Der da oben ist immer da und der sagt mir, wie die Situation ist: »Ich bin ziemlich wacklig« oder »manchmal habe ich eine Verbindung nach unten« oder »die Verbindung ist verloren gegangen« usw. Unten im Menschen ist auch etwas, etwas, das man nur durch die Kontinuität, durch die Verbindung damit erfahren kann. Allerdings wäre es zu vereinfacht zu sagen, es sei ein Teil oben, das ist der Beobachter, und es sei ein Teil unten, das ist das wirkliche Selbst. Denn dieses sogenannte wirkliche Selbst dort unten besteht offenbar nicht aus einem Stück, sondern aus einem Verbundensein. Wenn man diese Verbindung nach unten hat, ist man nicht mehr nur so ein hilfloses Stück da oben, das von allem Möglichen, das man nicht wahrnehmen kann, umhergetrieben wird. Man kommt dann echt aus sich heraus, man kommt durch, man »rollt aus sich heraus«, wie ich das manchmal nenne. Eine Teilnehmerin frägt: "Warum sprechen Sie von oben und unten und nicht z. B. von vorne und hinten?" Antwort: Jede Metapher ist nur eine Metapher. Jeder kann sich seine eigenen Metaphern machen und keine ist richtig. Warum benütze ich diese Metapher? Weil der Obere in den Augen und der Untere tief im Körper zu finden ist." (Gene Gendlin in Wiltschko "Focusing in der Praxis" S. 149)


Mit diesem Helferlein, den "Unteren" und den "Oberen", können Sie die Beispiele von oben ganz leicht nachvollziehen:
    Sagen Sie Ihren Unteren "Ich bin rund herum glücklich!", nehmen Sie sich Zeit, spüren Sie nach, kommen Sie mit Ihren Unteren ins Gespräch... Es ergibt sich ein ganz persönlicher Dialog.
    Und passen Sie gut auf, daß Sie sich auch immer wieder körperlich spüren, Ihre Stimmung oder Befindlichkeit spüren. Wenn die Oberen mit Ihren Gedanken davon fliegen und die Unteren regelrecht sitzen lassen, dann "entsteht ein Dialog der Oberen miteinander, sozusagen eine Debatte des Inneren Parlamentes". wie G. Gendlin warnt.


Das Helferlein in Kurzfassung:
Kommen Sie in vollem Bewußtsein (Obere) mit den Unteren in ein wohlwollendes "Gespräch", indem Sie deren gespürte Antworten in den Dialog einfließen lassen.



Ein paar Gedanken und Bilder zu den "Unteren":
  •     Schon Sigmund Freud vermutete, daß wir nicht Herr im eigenen Hause wären. Auch die Neuroforschung bestätigt immer mehr diese Vermutung. Es drängt sich das Bild auf, daß das ICH, die Oberen, wie eine kleine Insel auf einem grenzenlosen Meer getragen wird.
  •     Vielleicht kennen Sie den Ariadnefaden um aus dem Labyrinth zurück zu finden. Wenn Sie den Faden als Faden des Lebens verstehen, dann können Sie sich immer weiter bis zum Ursprung des Lebens zurück verfolgen. Der Faden war nie unterbrochen, sonst würde es Sie nicht geben! Und denken Sie, was Sie auf dieser Jahrmillonen langen Reise Alles mitgebracht haben! Ihre Unteren können Ihnen davon erzählen, sie waren dabei...
  •         Ein paar kurzgefaßte Gedanken: Bei der Begegnung von zwei Menschen sind es die Unteren, die blitzschnell im Millisekundenbereich über Freund-Feind entscheiden. - Die Gehirne von zwei Menschen können unbewußt miteinander in Resonanz treten, wobei quasi ein gemeinsames Gehirn entsteht. - Bei Aufstellungen kommunizieren die Unteren der beteiligten Personen und Vertreter. - Die Unteren können prinzipiell sehr gut ohne die Oberen leben aber nicht umgekehrt!
  •     Wichtig ist der wohlwollende Dialog der Oberen mit den Unteren. Die Unteren sind das Fundament, das uns trägt. Und doch haben wir uns eine Welt der Oberen geschaffen, die wenig Rücksicht auf die Unteren nimmt. Die Unteren haben zu funktionieren, der Körper soll reibunglos seine Aufgaben erfüllen, damit wir unsere "höheren" Ziele verfolgen können. Es ist wohl ein Wunschdenken, welches zeitweise in Erfüllung geht, in der Realität dann aber langfristig scheitert...
  •     Noch ein Gedanke: Haben Sie sich schon mal überlegt, wo die gesprochenen Worte und Sätze herkommen, wenn Sie sich zu einem Wortbeitrag gemeldet haben und frei reden wollen? Haben Sie eine innere Tafel, von der Sie ablesen? Sicher haben Sie schon oft die Erfahrung gemacht, daß es nicht so heraus kommt wie Sie es gemeint haben. Wer hört da zu, wer korrigiert hier? Das bewußte ICH kann es nicht sein; dazu ist es viel zu langsam...
  •     Sollten Sie den Ansatz vom "Inneren Kind" kennen (siehe WIKIPEDIA), so entsprechen den Oberen das Erwachsenen-ICH und den Unteren das Innere Kind. Dieser Zugang zu den Unteren, dem Inneren Kind, ist ein ebenso wohlwollender innerer Dialog. Vielleicht kennen Sie ja das Buch von Stefanie Stahl (2015): Das Kind in dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme. Kailash. ISBN 978-3-424-63107-4. Oder eben das Original: John Bradshaw (1994): Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst. MensSana ISBN 978-3426870518.
  • "Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Meister Eckehart hat gesagt: Gott ist dir näher als du dir selbst. Das kann alles Mögliche bedeuten. Für mich bedeutet es: Ich weiß über mich, dass ich einer „oben“ bin, der sich bewusst ist und der spricht und handelt, und „unten“ ist auch einer. Der da unten bin ich auch. Und den muss ich manchmal ausgraben, er ist oft verschüttet. Ich muss hinuntergehen und ihn finden. Wenn ich dann die Verbindung, die Kontinuität zwischen beiden gefunden habe, wenn beide Eins sind, dann bin ich o.k., dann bin ich wirklich da. Am nächsten Tag ist der da unten wieder verschüttet, und ich muss ihn wieder ausgraben. Es gibt sicherlich Leute, die diese Verbindung nicht jeden Tag herstellen müssen, aber ich bin so. Meister Eckehart sagt mir etwas. Er sagt mir: Gott ist dem da unten näher als du ihm bist. Da denke ich mir: Ja, das muss wahr sein, denn ich muss den da unten immer wieder aufs Neue finden. Für mich ist „Gott“ nur ein Wort, das bedeutet: Ich weiß ja nicht, wovon ich lebe. Es lebt mich. Und da bin ich nun und soll mich chauffieren. Wie der Wagen gemacht ist und wieso er da ist, weiß ich da oben nicht. Aber da unten weiß ich’s, weil ich es bin. Es ist eine Art von Wissen, wie man ist. Von dort aus kann ich denken und von dort aus können alle möglichen Ideen kommen." (Gene Gendlin in Wiltschko "Focusing und Philosophie" S. 57)


    Wenn Sie sich für das "Focusing" von Gene Gendlin näher interessieren, hier das "Institut für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie", wo ich in den 90er Jahren meine Ausbildung absolviert habe: Dr. Rainer Eggebrecht in 82362 Weilheim i.OB  -  IGF

    Das Focusingjournal von Dr. Johannes Wiltschko kann ich sehr für Informationen rund um das Focusing empfehlen. Es haben sich seit 1998 fast 50 Hefte im PDF-Format zum kostenlosen Download angesammelt. Sie finden es unter FocusingJournal

    Noch ein "Geheimtipp": In Achberg am Bodensee im Humboldthaus finden jährlich im Juli/August mehrtägige Focusingseminare statt: einmal vom DAF und zum anderen vom Focusing-Netzwerk.