Wohin mit meinen Gefühlen?
    Auch wenn ich Ihnen das "Regulationsmodell für Gefühle" als "kleines Helferlein" vorstelle, so kann es doch in besonderen Momenten Großes bewirken. Die besonderen Momente ergeben sich meist dann, wenn Sie mit Ihren Gefühlen nicht zufrieden sind oder wenn Sie in bestimmten Lebenssituationen emotional auf eine andere Art und Weise reagieren möchten.
    Zu diesem Zweck wäre es nützlich zu verstehen, wie denn Gefühle im Kopf funktionieren. Es gilt heute als gesichert, daß beim Entstehen von Gefühlen grunsätzlich Nervenzellen im Gehirn und Botenstoffe zusammenwirken.
    Mit unserem Bewußtsein nehmen wir zuallererst eine körperliche Erregung mit einer bestimmten Qualität wahr; erst dann ordnen wir genau diesem Erleben im Bewußtsein einen Namen zu, den wir im Laufe unseres Lebens gelernt haben.
    Die Neurowissenschaften konnten nun zeigen, daß sehr verschiedene Bereiche, auch neuronale Netzwerke genannt, mit den zugehörigen Botenstoffen für die Entstehung von Gefühlen zuständig sind. Diese Netzwerke sind über das ganze Gehirn verteilt und werden je nach Bedarf miteinander verschaltet oder synchronisiert. Mit den bildgebenden Verfahren der Hirnforschung war es auch möglich, die entsprechenden Orte im Gehirn zu lokalisieren und mit Namen zu belegen.
    Um die Übersicht nicht zu verlieren, hat Prof. Paul Gilbert(1) auf ein Modell von Depue und Morrone-Strupinsky(2) zurück gegriffen und daraus eine anschauliche aber auch vereinfachte Darstellung entwickelt, wie die Regulation der Gefühle des Menschen zu verstehen ist. Dieses kleine Helferlein sei hier vorgestellt, damit wir unsere emotionalen Zustände einordnen und vor allem benennen können. Mit Hilfe dieses "Emotions-Regulations-Modells" können wir dann sagen: "Ich bin jetzt gerade im roten Bereich oder Zustand, im blauen oder auch im grünen!"
    So schön ordentlich die farbigen Kreise auch anzusehen sind, es handelt sich hier um ein hoch dynamisches Modell. Blitzschnell (in Millisekunden) wechselt das Gehirn seine Zustände, springt in den roten Bereich, zurück zum blauen und auch gleichzeitige Zustände sind möglich. Außerdem beeinflussen sich auch noch die drei Zustände gegenseitig, wobei im Besonderen rot-blau und grün-blau zusammen wirken.


Zur Erläuterung des Modells:

rot:
Das Bedrohungssystem ist die Zusammenfassung von neuronalen Netzwerken, die dem Selbstschutz dienen. Die Prozesse ermöglichen das Erkennen, Bewältigen, Verarbeiten und Reagieren auf Bedrohungen. Sie sind angeboren und laufen schnell, instinktiv und automatisch ab. Unser Gehirn ordnet dem Umgang mit Gefahren die höchste Priorität zu, da wir so am besten geschützt sind. Bedrohungserleben kann entstehen, wenn körperliche Bedürfnisse bedroht werden (z. B. nach körperlicher Unversehrtheit), aber auch wenn psychische bedroht werden, wie beispielsweise Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Kontrolle, Macht und Freiheit. Zusätzlich gibt es eine Reihe von bedrohungsbasierten Emotionen, wie Wut, Angst, Ekel und Abscheu, und eine Reihe von verteidigungsorientierten Verhaltensweisen, wie Kampf, Flucht, Unterwerfung und Erstarrung.
blau:
Das Motivations- oder Antriebssystem setzt sich aus neuronalen Netzwerken zusammen, welche die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf vorteilhafte Ressourcen ermöglichen und ist mit Aktivierung und Belohnung verbunden. Positive Gefühle aus dem Tun, Erreichen und Gewinnen. Wichtige Elemente sind zudem Erregung und Vergnügen, Ziele verfolgen, etwas leisten und gewinnen, Wachstum, Zugewinn, Wettbewerb, der Stärkere gewinnt, immer höher, weiter, mehr...
grün:
Neuronale Netzwerke, die der Zufriedenheit, der Besänftigung und Bindung dienen, werden als Fürsorgesystem bezeichnet. Zentrale Elemente sind Sicherheit, Freundlichkeit, Fürsorge, Zufriedenheit, Selbstfürsorge, und Verbundenheit. Das Fürsorgesystem ermöglicht einen Zustand von Frieden und Offenheit, wenn Individuen nicht mehr bedrohungsfokussiert oder auf der Suche nach Ressourcen, sondern zufrieden sind. Das ist auch mit Gefühlen des Wohlbefindens verbunden. Als System der Bindung, Fürsorge und des beziehungsorientierten (affiliativen) Verhaltens nimmt dieses System die wichtigste Funktion für das Verständnis von Mitgefühl ein. Es ist mit den Endorphin-Oxytocin-Systemen verbunden, deren Funktion die Förderung von Vertrauen und beziehungsorientiertem Verhalten ist. Empfänger von beziehungsorientiertem Verhalten erleben eine Beruhigung ihres Bedrohungssystems.

Ich werde einige Lebensumstände und Beispiele sowie die dazugehörigen Farb-Bereiche beschreiben, um die Nützlichkeit des kleinen Helferleins zu zeigen:

    Nehmen Sie als erstes Beispiel das Fahrradfahren: Geniessen Sie den ebenen Fahrradweg, die Frische eines Sommermorgens, freuen sich auf das mitgebrachte Vesper und gleiten Sie fast mühelos dahin... Sie sind im grünen Bereich. Aber wehe, plötzlich hören Sie ein Zischen... schnell ist Ihnen klar, es ist ein Plattfuß am Hinterrad! Blitzschnell hat sich ein so schöner und entspannter Fahrradausflug in Streß verwandelt: Habe ich Flickzeug dabei? Wie weit muß ich schieben? Wo kann ich mich abholen lassen? Muß mir das jetzt passieren... und Sie sind voll im roten Bereich. Doch bald kommen Ihnen Ideen, wie Sie die Panne beheben können... der blaue Bereich ist gefragt.

    Sicher können Sie jetzt das nächste Beispiel schon selber erklären: Sie sitzen vor der Glotze, ein Western läuft. Eine wilde Hatz jagt über den Bildschirm, Schüsse fallen, schon längst müßten Sie auf die Toilette, doch keine Pause tut sich auf, unruhig rutschen Sie im Sessel hin und her... klar roter Bereich, und immer wieder wird der blaue Bereich triggert, geh endlich...

    Auch wenn Sie sich einen ganz normalen Spielfilm im Kino ansehen, wechseln Ihre Gefühle von rot nach blau und zurück und wieder blau und in ganz anrührenden Szenen dann auch mal nach grün, alles in schnellem Wechsel. Nach dem Film berichten Sie, daß er auf jeden Fall spannend war (rot), tolle Landschaften wurden gezeigt (blau) und einiges Herzblut haben Sie auch vergossen (grün).

    Bei der Diagnose einer schweren Krankheit, beim Mobbing, bei einer öffentliche Rede usw. ist immer der rote Bereich in Aktion. Es geht ganz klar um Bedrohung und um den Selbstschutz. Auch der "Innere Kritiker" bedient sich des roten Bereichs: Wenn Du Dich so und so verhältst, dann mußt Du Dich schämen! Der rote Bereich ist immer aktiv, ob man schläft oder wach ist. Der rote Bereich sichert mit Hilfe des blauen das Überleben.


    Sicher fallen Ihnen auch jede Menge passende Beispiele ein. Was bereits jetzt auffällt ist der geringe Anteil des grünen Bereichs. Dies entspricht aber dem Leben selber: Erst wenn alle Grundbedürfnisse erfüllt (blau) sind und keine Bedrohung (rot) erkannt wird, wird der grüne Bereich aktiviert. Und noch eine Bedingung ist notwendig: Das neuronale Netzwerk für den grünen Bereich muß gut trainiert sein, d.h. häufig in Gebrauch sein.
    Um den roten Bereich muß man sich nicht kümmern; er ist immer von Natur aus gut ausgebildet; ebenso der blaue Bereich, der meist vom roten getriggert wird. Natürlich läßt sich der rote Bereich bei der Ausbildung beim Militär oder beim Kampfsport noch steigern.
    Sorgen muß man sich um den grünen Bereich machen. Es läßt sich nicht oft genug sagen: Der grüne Bereich verhält sich wie ein Muskel. Er verschwindet zwar nicht ganz; um ihn aber benutzen zu können muß er trainiert werden und zwar regelmäßig. Ein paar Wochen das Bein in Gips und die Muskeln müssen wieder mühsam aufgebaut werden um das Gehen zu ermöglichen.

    Noch ein interessanter Hinweis: Beim grünen Bereich denken viele an Empathie. Um den grünen Bereich zu stärken, müßten sie sich in Empathie üben. Weit gefehlt! Ganz klar befindet man sich beim Einfühlen in den Schmerz des Anderen im roten Bereich. Man erlebt den Schmerz des Anderen als Bedrohung des eigenen Körpers. Die hohe Kunst im Umgang mit Empathie besteht darin, dem Schmerz mit Mitgefühl zu begegnen, welches im grünen Bereich angesiedelt ist. Ist also der grünen Bereich gut trainiert, dann kann man der schmerzhaften Empathie kraftvoll entgegen treten.

    Fazit:
Mit Hilfe des "Regulationsmodells für Gefühle" haben Sie ein kleines Werkzeug zur Hand, um Ihre Gefühle beschreiben zu können. Natürlich können Sie mit diesem Modell keine Gefühle machen, aber Sie können erkennen, was in Ihnen gefühlsmäßig vor sich geht. Dieses Erkennen hilft Ihnen dann zu ergründen, welche äußeren Umstände wohl die Ursache für Ihre Gefühle sind. Denn dann schreien Sie Ihren Partner bei einem Wutausbruch nicht mehr mit den Worten an: "Was soll ich sein? Ich bin überhaupt nicht wütend! Ich bin die Ruhe selbst!"

(1) Paul Raymond Gilbert OBE - (born 20 July 1951) is a British clinical psychologist. Gilbert is the founder of compassion focused therapy (CFT), compassionate mind training (CMT) and author of books such as The Compassionate Mind: A New Approach to Life's Challenges and Overcoming Depression.

(2) Depue, R. A., & Morrone-Strupinsky, J. V. (2005). -  A neurobehavioral model of affiliative bonding: Implications for conceptualizing a human trait of affiliation. Behavioral and Brain Sciences, 28(3), 313–350.

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Achtung: T. Esch bezeichnet die Farben blau, rot und grün im Kapitel 8 folgendermaßen: blau=Typ A, rot = Typ B
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